Der Verfall der Bücher – Adornos Kritik aus dem Jahr 1959 und ihre Aktualität heute

Adornos "Verfall der Bücher": Von der Buchmesse 1959 zu BookTok & KI 2025

Stellen Sie sich vor: Es ist 1959, die Frankfurter Buchmesse pulsiert vor Leben. Doch inmitten des Spektakels empfindet ein Mann tiefe Beklemmung. Theodor W. Adorno, Philosoph der Frankfurter Schule, notiert in seinen „Bibliographischen Grillen“: „Die Bücher sehen nicht mehr aus wie Bücher.“ Bebilderte Einbände, grelle Farben – für Adorno ein klares Zeichen für den „Verfall der Bücher“, einer Zeit, in der das Medium zur Konsumware degradiert.

66 Jahre später, im Oktober 2025, greift Josephine Bewerunge in der FAZ [Hier externen Link zum FAZ-Artikel einfügen] diesen Gedanken auf und fragt: Was macht das Buch eigentlich zum Buch – abgesehen vom Inhalt? In einer Ära von E-Books, KI-generierten Texten und TikTok-Buchhypes ist Adornos Kritik relevanter denn je.

Dieser Beitrag taucht tief ein: Wir beleuchten Adornos detaillierte Vorwürfe, ihre schockierende Aktualität 2025 und warum Bücher heute mehr denn je um ihre Identität ringen.

Von der Aura zum Fetisch: Adornos Kulturindustrie-Kritik im Detail

Adornos Kritik an der Buchmesse 1959 war kein Launenausbruch, sondern eine präzise Diagnose der Kulturindustrie – jenem Konzept, das er mit Max Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) prägte. Er sah, wie Bücher industrialisiert und kommodifiziert wurden.

Exkurs: Was ist Adornos "Kulturindustrie"?
Einfach gesagt: Die Kulturindustrie ist für Adorno die fabrikähnliche Produktion von Kultur (Filme, Musik, Bücher) mit dem einzigen Ziel des Profits. Sie schafft standardisierte "Produkte", die Konsumenten passiv halten und kritisches Denken verhindern. Die Buchmesse 1959 war für Adorno der Beweis, dass selbst das Buch – einst Hort der Aufklärung – Teil dieser Industrie wurde.

Adornos Kritikpunkte waren klar definiert:

1. Ästhetischer Verfall: "Bücher sehen nicht mehr aus wie Bücher"

Der erste Schock war visuell. Die traditionelle Buchgestaltung – solide Einbände, unaufdringliche Typografie – wich grellen Plakaten. Adorno kritisierte die „Übertreibung der Formate, auftrumpfend wie disproportional breite Autos“ und die „Plakatwirkung allzu intensiver Farben“.

Bücher wurden zu Werbegeschenken, die den Leser „anspringen“ sollten, statt ihn einzuladen.

2. Kulturelle Entwertung: Das Buch als Ware

Für Adorno war das Buch ein Träger kritischer Reflexion, ein Bollwerk gegen die Massengesellschaft. Doch die Messe offenbarte: Literatur war zur Ware geworden, determiniert vom Markt. Er räumte zwar ein: „Bei literarisch strengen Verlagen gibt es noch Ausnahmen“, und lobte damit implizit Verleger wie Suhrkamp, deren minimalistisches Design (neu seit 1959) der Kommerzialisierung trotzte.

3. Der Verlust der Aura: Das Buch als Massenprodukt

Inspiriert von Walter Benjamins Ideen, sah Adorno im gedruckten Buch eine einzigartige Präsenz – haptisch, langlebig, intellektuell.

Was meint Adorno mit dem "Verlust der Aura"?
Die "Aura" ist die Einzigartigkeit eines Kunstwerks, seine physische Präsenz und Geschichte. Beim Buch ist es der Geruch des Papiers, das Gewicht in der Hand, die Spuren des Lesens. Die industrielle Massenproduktion, so Adorno, zerstört diese Magie. Sie macht Bücher austauschbar, flüchtig und raubt ihnen ihre Würde – ein Schicksal, das Adorno als "spröde" werden bezeichnete.

Adornos Text, erst ein FAZ-Kommentar (16.10.1959), wurde später zu einem Essay über den `Verfall der Bücher` erweitert.

Aktualität 2025: Von der Buchmesse zur Algorithmus-Messe

Heute, 66 Jahre später, wirkt Adornos Prophezeiung wie ein Echo. Die Frankfurter Buchmesse 2025 war ein Fest der Hybride: Stände mit VR-Lesungen neben Self-Publishing-Autoren, die KI-Tools nutzen, um Romane in Stunden zu produzieren.

Adornos „Verfall“ hat neue, digitale Formen angenommen:

Digitale Entmaterialisierung: Das E-Book ohne Aura

E-Books und Hörbücher sind praktisch, aber sie rauben dem Buch seine Sinnlichkeit. Kein Rascheln von Seiten, kein Geruch von Papier – nur Scrollen. Adorno würde genau jene `Aura` vermissen, die ein physisches Buch ausstrahlt, wie auf dem ikonischen Foto von 1969, wo er von Regalen umgeben thront.

KI, BookTok und die neue Kulturindustrie

  • Algorithmen (Amazon & Co.): Sie pushen Bestseller basierend auf Klicks, nicht auf Tiefe.
  • KI-generierte Texte: Self-Publishing-Plattformen werden mit Massenware überschwemmt.
  • BookTok: Virale Challenges machen Bücher zu Trends. Dies steigert zwar die Verkäufe, doch oft auf Kosten kritischer Inhalte und zugunsten leicht konsumierbarer "Snacks".

Gegenbewegungen: Die Sehnsucht nach dem Echten

Dennoch gibt es Hoffnung. Indie-Verlage setzen auf handgefertigte Editionen. Die Renaissance des gedruckten Buches bei der Gen Z zeigt: Viele sehnen sich nach Adornos Ideal – dem Buch als Ort der Muße und Reflexion.

Fazit: Braucht es Adornos Mahnung heute mehr denn je?

Adornos „Verfall der Bücher“ ist kein Relikt der 1950er, sondern ein Kompass für 2025. Er erinnert uns: Ein Buch ist mehr als Bits und Bytes oder bunte Umschläge – es ist ein Akt der Freiheit.

In Zeiten von Aufmerksamkeitsökonomie und `KI-generierten Texten` braucht es Adornos Mahnung: Bücher müssen nicht unterhalten, sondern provozieren, kritisieren, erhellen.

Lassen wir uns von seiner Beklemmung anstecken: Greifen wir zu einem alten Suhrkamp-Bändchen oder Buch von Digiboo, blättern wir langsam und fragen uns, was das Medium heute ausmacht. Vielleicht ist der wahre Verfall nicht der der Bücher, sondern der unserer Aufmerksamkeit dafür.

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Das Buch als Gedächtnismaschine